Herne. Der Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) 2022 weist höchst bedenkliche gesellschaftliche Entwicklungen aus. Die Armut in Deutschland erreichte 2021 mit 13,8 Millionen Betroffenen und einer Armutsquote von 16,6 Prozent einen Höchststand. Der Aufwärtstrend in der Armutsentwicklung begann 2006, ein Jahr nach Einführung des SGB II (Hartz IV). 2021 gab es 300.000 von Armut Betroffene mehr als im Vorjahr und 600.000 mehr als vor der Pandemie – und das, obwohl das Bundesinlandsprodukt um 2,9 Prozent stieg und die Arbeitslosenquote sank. Gleichzeitig stieg Zahl der Millionäre in Deutschland wie auch weltweit gerade in der Pandemiezeit stark an.
„In diesem Zusammenhang stellt sich immer dringender die Frage nach mehr Verteilungsgerechtigkeit, besonders hier im Ruhrgebiet“, sagt Dagmar Spangenberg-Mades, die Leiterin des Arbeitslosenzentrums Zeppelin. „Das Ruhrgebiet wird im Bericht des DPWV als armutspolitisches Problemgebiet Nummer 1 bezeichnet, weil hier 1,2 Millionen von 5,8 Millionen Einwohnern als arm gelten.“ Das entspricht einer Armutsquote von 21,1 Prozent, in Herne ist diese Quote noch höher. Die Situation dieser Menschen hat sich durch Pandemie und Inflation nochmals massiv verschärft, was im Zeppelin-Zentrum ebenso wie im katholischen Arbeitslosenzentrum deutlich spürbar sei.
Die beiden Einrichtungen beraten und begleiten die von Armut betroffenen Menschen und sehen es als eine ihrer wichtigen Aufgaben an, auf ihre Nöte und Anliegen aufmerksam zu machen. Aus diesem Grund veranstalteten die beiden Zentren gemeinsam mit den Caritaskonferenzen einen Aktionstag unter dem Motto „Drastische Preissteigerungen – bisherige Hilfen reichen nicht. Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums in der Krise.“
Die Mitarbeitenden forderten, dass nicht wie bislang Entlastungen durch ein Gießkannenprinzip realisiert werden. „Von den Entlastungen profitierten nämlich bislang vornehmlich Besserverdienende, wie Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung nachweisen“, so Spangenberg-Mades. „Es sollten stattdessen gezielt einkommensarme Menschen in den Blick genommen werden.“ So dürfe es beispielsweise nicht sein, dass Menschen mit auskömmlichem Einkommen eine Energiepauschale in Höhe von 300 Euro erhalten und eine Rentnerin mit kleiner Rente keine Unterstützung erhält.
Außerdem sollte die Aktion deutlich machen, dass die dringlichste Maßnahme die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes sein müsse, der schon vor der Pandemie viel zu gering bemessen gewesen sei. „Der DPWV hat berechnet, dass die Regelleistung für eine armutsfeste Grundsicherung mindestens 678 Euro betragen müsste, das sind gut 50 Prozent mehr als bislang“, sagte Spangenberg-Mades. „Deshalb sollte bis zur Einführung des Bürgergeldes, welches ja nun schon länger auf sich warten lässt, eine Überbrückungsleistung von 200 Euro monatlich gezahlt werden.“ Angesichts der steigenden Energiepreise fordern beide Einrichtungen für alle Einkommensarmen die bedingungslose Übernahme der Energiekosten bis zu einem Verbrauch, der alle existenziellen Bedürfnisse sichert und die Übernahme der tatsächlichen Stromkosten. In der Regelleistung ist für den Alleinstehenden derzeit lediglich ein Betrag in Höhe von gut 36 Euro für Strom enthalten. Von großer Brisanz sei aktuell die Forderung nach unbürokratischer Übernahme der absehbar erhöhten Abschläge und Nachzahlungen durch alle Jobcenter und Sozialämter und nach einem gesetzlichen Verbot von Strom- und Gassperrungen, wenn Privathaushalte betroffen sind.
Derzeit ist in der Regelleistung ein monatlicher Ansparbetrag von knapp 3,50 Euro für den Erwerb einer neuen Waschmaschine und eines neuen Kühlschrankes vorgesehen. Dies sei als lebensfremd zu bewerten. Deshalb lautet hier die Forderung nach Extraleistungen für die Ersatzbeschaffung von energiesparenden Haushaltsgeräten.
Derzeit erhalten von 7,7 Millionen von Armut betroffne Haushalte nur 4 Millionen eine Grundsicherung – davon 700.000 Wohngeld. Die beiden Einrichtungen fordern hierzu die Erhöhung der Einkommensgrenzen und eine Orientierung an der Warmmiete bei Wohngeld und somit eine Anpassung von Wohngeldberechtigung an die Armutsschwelle.
Um mit Passanten über diese und weitere Forderungen ins Gespräch zu kommen, wurden sie eingeladen, sich einen Einkaufswagen mit einem Lebensmitteleinkauf eines Hartz-IV- Empfängers anzuschauen, der bei günstigem Einkauf von dem Anteil in der Regelleistung (36,36 Euro) finanziert wurde und zu notieren, was ihnen persönlich fehlen würde. Ganz oben auf der Liste standen Joghurt, Quark, Müsli und Aprikosen.
Wichtig war den beiden Beratungsstellen auch noch der Hinweis darauf, dass sich auf Grund höherer Kosten für Heizung und Strom eventuell auch für Nichtleistungsbezieher Ansprüche auf Sozialleistungen ergeben können. Sie empfahlen daher die Überprüfung der individuellen Situation durch eine qualifizierte Stelle. Um dem steigenden Informations- und Beratungsbedarf gerecht zu werden, sollen in den nächsten Wochen weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen folgen. DSM