„Ruhrgebiet als armutspolitisches Problemgebiet Nr. 1“

Wanne-Eickel. „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden“ – dieses Jesuswort stand über einem Referat von Dagmar Spangenberg-Mades vor der Frauenhilfe in Wanne-Süd. Dabei ging es vornehmlich um das Thema Armut. Die Leiterin des Zeppelin-Zentrums stellte heraus, dass die Armut in Deutschland gerade in der Pandemie-Zeit stark angewachsen sei. „2021 wurde mit 13,8 Millionen Betroffenen ein neuer Höchststand erreicht“ führte sie aus. „Es gab dabei 300000 Armutsbetroffene mehr als im Vorjahr und 600000 mehr als vor der Pandemie; bundesweit gelten 16,6 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet – im Ruhrgebiet sind es 22 Prozent.“

Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband bezeichne in seinem jüngsten Armutsbericht das Ruhrgebiet als armutspolitisches Problemgebiet Nr. 1 in der Bundesrepublik, „denn im Ruhrgebiet leben 1,2 Millionen von Armut betroffene Menschen.“ Auch das Thema Kinderarmut griff Spangenberg-Mades auf. „Die Zahlen zeigen, dass im Ruhrgebiet jedes dritte Kind in Armut aufwächst; in Gelsenkirchen sind es sogar 40 Prozent der Kinder; bundesweit gilt jedes fünfte Kind als arm.“ Gleichzeitig sei 2021 die Zahl der Einkommensmillionäre um 7,8 Prozent gestiegen, wobei ihr gesamtes Vermögen um acht Prozent gestiegen sei. „Deshalb bezeichnen Armutsforscher die Hilfen für den armen Teil der Bevölkerung während der Pandemiezeit als unzureichend und stellen die Gerechtigkeitsfrage“, sagte Spangenberg-Mades.

Dem allgemeinen Überblick über die aktuelle gesellschaftliche Situation folgten Fall-Beispiele aus dem Beratungsalltag im Zeppelin-Zentrum. Die Leiterin der Beratungsstelle erklärte, dass die Fälle, in denen es vordringlich um Existenzbedrohung und Existenzsicherung geht, im Vergleich zur Vergangenheit deutlich zugenommen hätten. Dabei seien vor allem Menschen mit ausländischen Wurzeln betroffenen. Gründe hierfür seien ungeklärter Aufenthaltsstatus, Zuständigkeiten verschiedener Behörden und deren Erreichbarkeit, Überforderung bei der Beschaffung von Dokumenten und Unterlagen, Sprachprobleme oder Schwierigkeiten bei der Suche nach unterstützenden Angeboten. „Die Folgen sind eine Vielzahl unbearbeiteter Schreiben und damit Zeiten ohne Sozialleistungsbezug bzw. ohne Einkommen, fehlender Krankenversicherungsschutz, Miet- und Energieschulden, drohende Obdachlosigkeit, psychosoziale Überforderung, psychische Erkrankung oder die Aufnahme einer ausbeuterischen Beschäftigung.“

Auch mit Unterstützung der Beratungsstelle und deren Kooperationspartnern seien längst nicht alle Fälle kurzfristig lösbar. Als Beispiel erzählte sie von einer Klientin, deren Ex-Partner in Zeiten der Partnerschaft alle Angelegenheiten mit Behörden und anderen Einrichtungen erledigte, weil er im Gegensatz zur Klientin über entsprechende Deutschkenntnisse verfügt. Nach der Trennung ist er für Klientin und Beratungsstelle nicht erreichbar und reagiert nicht auf die Bitte um Herausgabe bestimmter vom Jobcenter geforderter Unterlagen. Die Ersatzbeschaffung gestaltet sich für die alleinerziehende Mutter schwierig, z.B. im Fall von Kontoauszügen einer Bank, die die Herausgabe der Belege auf Grund der entstehenden Kosten bei Überziehung des Kontos ablehnt. Selbst als die Beratungsstelle sich einschaltet und der Bankmitarbeiterin erklärt, dass von den Auszügen der Leistungsbezug abhängt und somit auch die Eingänge auf dem Konto, und außerdem anbietet, die Gebühren für die Neufertigung über einen Fond zu tragen, kommt zunächst keine Bewegung in den Vorgang.

Die Mitglieder der Frauenhilfe hören die Schilderung einiger ähnlich komplexer Fälle, wie z.B. dem einer Klientin, die im Rahmen einer ausbeuterischen Beschäftigung im Hotelgewerbe zum Minijob-Lohn Vollzeit beschäftigt war. Eine Diskussion über das Gehörte mit dem Fokus auf dem Gesichtspunkt Gerechtigkeit schloss sich an. Die Mitglieder der Frauenhilfe Wanne-Süd bedankten sich für den Vortrag mit einer Spende für die Arbeit des Zeppelin-Zentrums. Dagmar Spangenberg-Mades bedankte sich herzlich und kündigte an, dass das Zeppelin-Zentrum dafür Lebensmittel für Bedürftige anschafft.

Beim Vortrag bei der Männerarbeit gab Dagmar Spangenberg-Mades einen Überblick über die Arbeit der Beratungsstelle Arbeit und des Zeppelin-Zentrums anhand des Jahresberichtes für das Jahr 2022. Die Mitglieder erfuhren, dass im zurückliegenden Jahr 1011 Beratungen durchgeführt worden. Inhaltlich sei es bei der überwiegenden Zahl der Beratungen um Fragestellungen zum SGB II (Hartz IV) gegangen. Auch in diesem Referat stellte die Leiterin des Zeppelin-Zentrums heraus, dass dabei die Fälle, bei denen es um Existenzsicherungsfragen auf Grund von Mittellosigkeit ging, stark angestiegen seien. „Darüber hinaus wurden Fragen zu anderen Rechtsgebieten, gesundheitliche und psychosoziale Fragestellungen bearbeitet“, sagte sie. „Durch den neuen Tätigkeitsschwerpunkt ‚Beratung ausbeuterisch beschäftigter Menschen‘ nahmen auch die Fälle in der Thematik Arbeitsrecht zu.

Auch hier präsentierte Dagmar Spangenberg-Mades einige Praxisfälle, bevor sie abschließend eine Einführung in das neue Bürgergeld gab. Dieses bringe einige Verbesserungen. „So können jetzt unter 25-jährige Schüler und Studenten mehr hinzuverdienen, ohne dass das Einkommen wie zuvor bei ihren Familienmitgliedern im Leistungsbezug angerechnet wird.“ Eine Erbschaft im Leistungsbezug sei zuvor als einmalige Einnahme auf sechs Monate verteilt angerechnet worden, so dass bei kleinen Erbschaften davon oft nichts mehr oder nur wenig übriggeblieben sei – ungeachtet dessen, ob der Betroffene seinen Vermögensfreibetrag ausgeschöpft hatte. „Nun zählt eine Erbschaft innerhalb der Vermögensfreigrenzen als anrechnungsfreies Vermögen“; so Spangenberg-Mades. „Außerdem wurde eine sogenannte Karenzzeit für das erste Jahr im Leistungsbezug eingeführt: Im ersten Jahr gelten höhere Vermögensfreigrenzen, und die tatsächlichen Unterkunftskosten werden übernommen, auch wenn diese oberhalb der Angemessenheitsgrenzen liegen.“ Als enttäuschend beurteilte Dagmar Spangenberg-Mades, dass im Allgemeinen maximal 48 Euro mehr ohne Anrechnung auf die Leistung hinzuverdient werden können. Vor Einführung des Bürgergeldes sei eine deutlich höhere Zuverdienstmöglichkeit versprochen worden. Der maximale anrechnungsfreie Zuverdienst lag bei Hartz IV bei 330 Euro und nun im Bürgergeld bei 378 Euro

Die Leiterin des Zeppelin-Zentrums informierte des Weiteren über die Arbeit des Stadtteilzentrums. „Auch dort macht sich die wachsende Armut bemerkbar“, sagte sie. „Second-Hand-Kleidung, Mittagstisch und Lebensmittelgaben werden stark nachgefragt.“ Die Möglichkeiten zu Begegnung, Austausch und gegenseitiger Unterstützung im Zentrum wirke für viele Betroffene einer Ausgrenzung und Stigmatisierung entgegen und habe stabilisierende Funktion. Dies sei auch der Erfolg der Arbeit der vielen Ehrenamtlichen im Zeppelin-Zentrum, die sich in Kleiderkammer, Küche und Café engagieren. Auch die Mitglieder der Männerarbeit bedankten sich für den Vortrag mit einer Spende für den Förderverein Maloche. Auch hierfür sagte Dagmar Spangenberg-Mades herzlich Danke. Abschließend wies sie darauf hin, dass die Beratungsstelle unter Telefon (02325) 6 08 40 Auskunft über mögliche Unterstützungsformen wie z.B. Bürgergeld oder das neue Wohngeld plus erteilt. DSM