Zielgerichtete Hilfen statt Gießkannenprinzip

Herne. Sowohl in den Beratungsstellen als auch an der Tür des Pfarrhauses wird es immer mehr spürbar, dass Menschen nicht über ausreichende Mittel verfügen und oft am Ende des Monats nicht mehr wissen, was sie in den verbleibenden Tagen essen sollen. „Die Sozialleistungen waren schon vor der Corona-Zeit nicht bedarfsdeckend, was z.B. durch den Regelsatzanteil für Lebensmittel und Getränke von 5,19 Euro täglich belegt sein dürfte“, sagt Dagmar Spangenberg-Mades, die Leiterin des Zeppelin-Zentrums. „Aus diesem Grund konnten die Betroffenen keinerlei Rücklagen bilden und eine Anschaffung – etwa einer Waschmaschine oder eines Kinderwagens – stellen ein unlösbares Problem dar“, berichtet Pfarrer Horst-Hermann Bastert von der Petrus-Kirchengemeinde.

„Die Folgen der Corona-Pandemie und die jüngsten Preissteigerungen insbesondere für Lebensmittel und Energie stellen für diese Menschen eine existenzielle Bedrohung dar, die auch massive Auswirkungen auf die seelische Gesundheit haben kann“, wie sowohl Spangenberg-Mades als auch Franz-Josef Strzalka vom Arbeitslosenzentrum ALZ der Caritas aus ihrer tagtäglichen Beratungsarbeit berichten. „Inzwischen flattern den betroffenen Menschen die Schreiben mit den erhöhten Abschlagsbeträgen für Heizkosten und Strom ins Haus“, wie Andrea Leyk von der Schuldnerberatung anmerkt. Sie befürchtet, dass zukünftig Insolvenzverfahren nur wegen des Energielieferanten als einzigem Gläubiger auf sie zukommen.

Die Beratungseinrichtungen stellten in einem Pressegespräch Fälle aus ihrer tagtäglichen Praxis vor. Darüber hinaus präsentierten sie einen Katalog, der im Kern zielgenaue Hilfen für Bedürftige an Stelle von Entlastungen nach dem Gießkannenprinzip fordert. Im Einzelnen sind darin folgende Hauptforderungen enthalten:

Staatliche Hilfen müssen diejenigen erreichen, die ihrer bedürfen – nicht alle benötigen beispielsweise ein 9-Euro-Ticket oder die Energiepauschale. Kindergeld sollte es in erster Linie für Familien mit geringem Einkommen geben. „Nicht länger mit der Gießkanne Entlastungen gewähren, sondern zielgerichtet Bedürftige unterstützen, z.B. durch deutlich erhöhte Transferleistungen und negative Einkommenssteuer auf niedrige Einkommen“, so Spangenberg-Mades. „Immer weiter fortschreitende Verarmung und Verschuldung sind nicht hinnehmbar und stehen dem christlichen Menschenbild diametral entgegen.“

Es gehe vor allem um gerechtere Verteilung. „Reichtum ist hier und weltweit rasant gewachsen – gleichzeitig wächst die Armut“, so Leyk. „Reiche müssen stärker in der Pflicht genommen werden.“ Denn allen Menschen müsse ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden. „Dazu müssen Sozialleistungen entsprechend angehoben werden“, so Spangenberg-Mades. „503 Euro, wie im neuen Bürgergeld vorgesehen, decken gerade mal die aktuelle Inflation; die Regelleistung muss auf mindestens 650 Euro steigen.“ Die Höhe der Regelleistung solle sich nicht nach dem Einkaufsverhalten armer Menschen bemessen, sondern daran, was ein Mensch benötigt, um ein Leben in Würde und mit Teilhabechancen führen zu können. „Außerdem müssen die tatsächlichen Wohn- und Energiekosten übernommen und Energiesperren gesetzlich verboten werden.“

Neben den finanziellen gebe es für Betroffene auch andere Probleme, betonte die Leiterin des Zeppelin-Zentrums. „Sozialleistungsbezieher werden latent diffamiert – durch Teile der Politik, in Medien, gesamtgesellschaftlich“, sagt sie. „Oft ist von mangelnder Motivation beispielsweise als Erklärung für Sanktionen die Rede; die Realität ist aber eine Andere. Das bestehende Hartz IV-System demotiviert, bremst aus, bedrückt, macht krank, bringt Menschen in Existenznot. Es braucht keine Sanktionen, sondern ein verantwortungsvolles Miteinander zwischen Leistungsbeziehern und Behörde. Dazu gehören auch die Zugänglichkeit und Erreichbarkeit der Sozialbehörden.“

Alle Beteiligten erwarten, dass der Unterstützungs- und Beratungsbedarf nochmals stark anwachsen wird. Wichtig ist ihnen dabei auch der Hinweis, dass erhöhte Abschläge und Nachzahlungen auch Leistungsansprüche auf Sozialleistungen auslösen können. Bei Erhöhung der Pauschale und bei Nachforderungen von Heizkosten müssten die Grundsicherungssysteme diese für die Leistungsbezieher im Rahmen der Kosten der Unterkunft übernehmen. Bei Erhöhung der Pauschale auf Grund der Preisentwicklung und bei Nachforderungen bei Haushaltsenergie sei die Lage nicht so eindeutig. Aber sowohl das SGB II (Hartz IV) als auch SGB XII (Sozialhilfe) und das Asylbewerberleistungsgesetz haben entsprechende Paragrafen, die im Kern Härtefallregelungen darstellen und Ansprüche als Beihilfe oder als Darlehen (bei gleichzeitigem Verzicht auf Rückzahlungen) ermöglichen. Dieses müsste gegebenenfalls gerichtlich eingeklagt werden. Auch Nichtleistungsbezieher können aus besagtem Grund Ansprüche nach dem SGB II/XII haben. Bedeutsam ist hier, dass die Leistungen im Monat der Fälligkeit der Forderung beantragt werden. Aufgrund der bevorstehenden Wohngeldreform werden zukünftig mehr Menschen zum Kreis der Berechtigten auf diese Leistung gehören. Hier müssen sich Menschen, die derzeit noch nicht im Leistungsbezug sind, informieren, ob sie zukünftig leistungsberechtigt sind.

Die Schuldnerberatung befürchtet, dass zukünftig allein wegen Energieschulden Insolvenzverfahren eingeleitet werden müssen, und empfiehlt dringend mögliche Ansprüche auf Sozialleistungen prüfen zu lassen, bevor ein Kredit wegen Energieschulden aufgenommen wird. Zeppelin-Zentrum und ALZ arbeiten an einem übersichtlichen Flyer, der weitere Aufklärung bringen soll und beim nächsten Aktionstag am 19. Oktober vor der Christuskirche in Wanne-Eickel erstmals verteilt werden soll. Ihre allgemeine Empfehlung lautet: Die Nutzung von Beratungsstellen sowie die Nutzung von SGB II- und Wohngeld-Rechnern im Netz und im Zweifelsfall Antragstellung beim Jobcenter/Sozialamt im Monat der Fälligkeit der Forderung zu stellen. DSM