Unbegreifliches Geschehen nähergebracht

Eine Konzertkritik von Brigitte Wilms

HERNE – In der Passionszeit hat das „Rhein-Herne-Quartett“ mit Gisela Röbbelen und Elisabeth Kronen (Violinen), Barbara Ravenstein-Holländer (Viola) und Carolin Schröder (Violoncello) das Streichquartett von Joseph Haydn über „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“ aufgeführt – am Sonntag Judika in der Christuskirche, am Karfreitag in der Kreuzkirche. Es ist ein einzigartiges Stück sprechender Instrumentalmusik in einem ganz neuen Sinne, durch die Art und Weise, wie Haydn den Textinhalt vermittelt.

Zunächst folgt der Tonartenplan auf das Genaueste der Affektbewegung: So wählt Haydn für die Vergebungsbitte Jesu („Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“) ein mildes B-Dur, sein Aufschrei der Verzweiflung („Mein Gott, warum hast Du mich verlassen“) steht in f-Moll, der dunkelsten Tonart des ganzen Werkes. Das „Es ist vollbracht“ aus dem Johannesevangelium erklingt g-Moll, sodass die Aussage den Hörer nach dem eindringlichen Unisono-Beginn in besonderer Weise ergreift. Das überstandene Leid dagegen symbolisiert eine wunderschöne, aufsteigende Melodie in G-Dur am Ende dieses Satzes.

Das Besondere ist, wie Haydn den Text mit musikalischen Mitteln ausdrückt: Die thematische Grundgestalt jeder Sonate ist aus der Deklamation des lateinischen Bibelwortes entwickelt, das zur Verdeutlichung den ersten Takten der ersten Violine unterlegt ist. Dazu tritt, dass die Zuordnung von gedachtem Text und thematischer Gestalt in jedem Satz überlagert wird durch Ausdrucksgesten, musikalisch-rhetorische Figuren, klangliche Akzente, thematische Entwicklungen und thematische Ideen, die nicht auf den Text zurückzuführen sind. So beginnt die erste Sonate mit drohend wirkenden pochenden Achteln in tiefer Lage, bevor das Thema erklingt, während Haydn in der zweiten Sonate das vorgestellte Thema als langsame Seufzer-Motive (absteigende Tonfolgen) fortsetzt und nach einer dramatischen Durchführung in Moll in einer sehr freien Reprise eine herrliche Kantilene in C-Dur – der Lichttonart – erklingen lässt. So erinnert er den Menschen daran, dass der Weg zum Paradies durch das Tal der Tränen führt.

Entstanden ist das Werk zunächst als Orchesterwerk, die heute beliebtere Fassung für Streichquartett folgte kurz danach, im Auftrag eines Priesters des Domkapitels von Cadiz zur feierlichen Gestaltung der Passions-Exerzitien in der Kapelle Santa Cueva, einer Höhle, die 1756 als Unterkirche der Stadtpfarrkirche in den Berg gegraben worden war. Nachdem der Bischof die einzelnen der „Sieben Worte“ von der Kanzel vorgelesen hatte, wurde darüber meditiert und in diese Stille hinein der passende Satz von Haydns Komposition musiziert.

In der Christuskirche hat Pfarrer Jens-Christian Nehme die Bibelworte vor den einzelnen Sonaten zu Gehör gebracht, was die Eindringlichkeit der Musik zusätzlich erhöhte und die Ergriffenheit der Zuhörer im Nacherleben des Passionsgeschehens noch steigerte. Das lag ohne Zweifel auch daran, dass es dem „Rhein-Herne-Quartett“ meisterlich gelang, die Nuancen in den einzelnen Sätze herauszuarbeiten, sodass sich offenbaren konnte, wie dem Verstehen eines unbegreiflichen Geschehens ein kleines Stück näherzukommen ist, wenn Wort und Musik zusammenwirken.