HERNE – Im letzten Kammerkonzert vor der Sommerpause in der Herner Christuskirche am 15. Juli standen ergreifende Gesänge aus Israel für Sopran und Gitarrenbegleitung auf dem Programm, die durch schwermütige und tiefsinnige jüdische Gedichte und Erzählungen ergänzt wurden. Zu Gast waren Esther Lorenz (Gesang) und der klassische Gitarrist Hendrik Schacht aus Berlin, die mit ihrem wunderbaren Zusammenspiel und ausdrucksstarken Musizieren begeisterten. Die vorgetragenen Lieder waren sowohl im modernen Hebräisch als auch im Bibelhebräisch verfasst. „Die Sprachen sind aber so eng verwandt, dass sich Mose auch heute noch ohne Hilfe in einer Bäckerei ein Brot kaufen könnte“, so Lorenz.
Eröffnet wurde das Konzert mit Psalm 57 von David, der auf der Flucht vor Saul in seinem Versteck Gott mit den Worten „Wacht auf, Laute und Harfe, Sonne, erwache“ zu loben beginnt
Der Titel des Konzertes „CHOFIM“ (Ufer) stammt aus einem Gedicht des israelischen Dichters Natan Yonatan (1923 in Kiew, Ukraine - 2004 in Petach Tikwa, Israel), der im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern nach Israel ausgewandert war. Der ältere seiner beiden Söhne starb mit 21 Jahren im Jom-Kippur-Krieg 1973, weshalb viele seiner Gedichte von der Sehnsucht nach Frieden handeln. Das Gedicht „Chofim“, das dem Konzert den Titel gab, beschreibt das Sehnen des Ufers nach dem Bach, der es einmal belebt hat und erinnert an Menschen, die auch so heimatlos zurückbleiben können. Heimatlosigkeit und Sehnsucht nach Frieden – darum ging es in mehreren Liedern und Gedichten.
Das Gedicht von Rose Ausländer (1901-1988 in Düsseldorf), die die Nazizeit im Ghetto in ihrer Heimatstadt Czernowitz überlebte, beschreibt die Verlorenheit des Heimatlosen in der Fremde und fasst seinen Zustand in dem bedrückenden Schluss-Satz zusammen: “Es weht Obdachlosigkeit um unser heimatloses Haus.“
Im babylonischen Exil hat das Volk Israel diese Heimatlosigkeit lange ertragen müssen, wie es im Psalm 137 beschrieben wird. Das zu Herzen gehende Lied begann mit einer instrumentalen Einleitung, die das Liedthema vorwegnimmt und als kleines Fugato darbietet. In dem Lied „Machar“ (Friede) beschreibt Naomi Shemer (1930-2004), eine der berühmtesten israelischen Sängerinnen und Textdichterinnen, was sich alles verändern wird, wenn Frieden einkehrt: z. B. wird man auf Zerstörer goldene Orangen laden, Tausende von Siedlungen errichten und Anemonen und Tulpen aus den Trümmern wachsen sehen. Der Refrain bringt die Hoffnung auf den Frieden zum Ausdruck, der bestimmt kommt, wenn nicht heute, so eben übermorgen, eine Hoffnung, die einfach nicht vergeblich sein darf.
Die berühmteste Dichterin und überhaupt die erste anerkannte Lyrikerin des modernen Israels ist Rachel Bluwstein (1890-1931), in Russland geborene Anhängerin des Zionismus, was sie bewog, 1909 mit ihrer Schwester nach Israel an den See Genezareth auszuwandern. Den See Genezareth (hebr. Kinneret), den tiefst gelegenen Süßwassersee der Erde und immer noch das größte Süßwasserreservoir Israels, liebte sie über alles, und sie ist auch dort auf dem Kinneret-Friedhof begraben. In ihren Gedichten, wie im Lied „Kinneret – du Gnade meiner Jugend“, drückt sie nicht nur ihre eigenen Erfahrungen mit Einsamkeit und Sehnsucht aus, sondern die einer ganzen Generation, die in das Land der Väter heimkehrten.
Typisch für hebräische Lieder, Gedichte und Geschichten ist vielfach eine Mischung von Witzigem und Traurigem, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt: So bei der Geschichte des vergesslichen Janke, der sich, weil er seine Kleider morgens nie finden kann, abends im Bett aufschreibt, wo er die einzelnen Kleidungsstücke hingelegt hat und, obwohl er tatsächlich fast alles findet, nur nicht sich selbst: „Janke ist im Bett“.
Auch eines der beiden sephardischen Lieder endet für das besungene Mädchen sehr bitter: Der Geliebte hat sich nachts in ihre Gestalt verliebt, als er sie aber am Tage sieht, verflüchtigt sich sein Heiratswunsch, und sein Fazit lautet: „Das nächste Mal werde ich mich bei Tageslicht verlieben.“ Als Sepharden werden die spanischen Juden bezeichnet, die sich nach ihrer Vertreibung 1492 um das Mittelmeer herum und auch in Nordamerika ansiedelten.
Im Konzert fehlte nicht die Sprache der aschkenasischen Juden aus Mittel- und Osteuropa, das Jiddisch-Daitsch, eine rund 1000 Jahre alte Sprache, die von einem Teil ihrer Nachfahren auch heute noch gesprochen und geschrieben wird.
„Dona, Dona“ ist ein jiddisches Lied über ein Kälbchen, das gefesselt auf einem Bauernkarren liegt und sich vergeblich nach der Freiheit des über ihm fliegenden Vogels sehnt. 1940 im Warschauer Ghetto entstanden, wurde dieses Lied später auch in einer hebräischen Version gesungen und bot den Zuhörern beim bekannten Refrain sogar die Möglichkeit, auch selbst einmal zu singen, wobei dona eigentlich donaj meint, die Anrufung Adonajs, eine der jüdischen Bezeichnungen für Gott.
Und noch etwas Vertrautes gab es gegen Ende des Konzertes: Die Melodie des Liedes „Die Stimme meines Geliebten“ von Sara Levi-Tanai (1910-2005), einer bekannten israelischen Komponistin und Choreographin. Es findet sich im Evangelischen Gesangbuch („Kommt herbei, singt dem Herrn“). Hendrik Schachts Gitarren-Version war sehr ruhig und gesanglich, mit weichem Anschlag trug er diese auch als Tanz zu verstehende Melodie vor.
Zum Schluss kehrten Esther Lorenz und Hendrik Schacht wieder zu geistlichen Liedern zurück, und zwar mit einer auch heute aktuellen Prophezeihung aus dem 8. Kapitel des Propheten Amos: „Siehe, es kommt die Zeit, […] dass ich einen Hunger ins Land schicken werde […] nach dem Wort des Herrn.“ Mit einem oft zu Hochzeit gesungenen geistlichen Lied über einen Teil des Segens, den Isaak versehentlich seinem Zweitgeborenen Jakob zugesprochen hat und dann nicht mehr zurücknehmen konnte, endete ein tief bewegendes Konzert, das einen vielfältigen Einblick in die hebräische Gedanken- und Gefühlswelt zu geben vermochte.